In der heiteren Diakonie des Todes

Ein Spaziergang mit dem Münchner Romancier Hans Pleschinski und ein Gespräch über seinen neuen Roman Ludwigshöhe.
Von Alexander Kluy, Buchwelt / Dezember 2008

Scheint die Oktobersonne nördlich der Alpen so eigentlich nur in München? So stark, und derart schamlos Sommer vorgaukelnd? Keine Wolke am Himmel. Gebürstetes Blau. Kein Zittern in der Luft. Leicht geschützte Paare, flanierende Passanten. Föhnwetter. „Neutraler Sonnenschein“, so beschreibt Hans Pleschinski den Föhn, diese oberbayerische Spezialität, sehr präzise in seinem jüngsten Roman Ludwigshöhe, „wie er sonst die Welt vergnügte, war den alpinen Fallwinden gewichen, die kaum ein Blatt bewegten und das Wasser der Seen nur matt kräuselten. Winddruck, der warme Luftmassen über die Grate Tirols und des Wendelsteins über die Nordhangalmen in die Schotterebenen presste.“ Und weiter: „Ein Drittel der Bevölkerung litt mit Schädelweh unter dem unentrinnbaren Luftdruck. Ein weiterer Teil geriet in Hochstimmung, ohne zuerst zu wissen, warum. Touristen sonnten sich. Radfahrer kamen von geraden Straßen ab. Autofahrer brüllten sich vor roten Ampeln Flüche zu. In Büros und Bussen Landshuts und Münchens schien man Sekt geschlürft zu haben. Chirurgen, die ein Handzittern fürchteten, versuchten Operationen zu verschieben, Prozesse wurden vertagt, da Schöffen sich nicht konzentrieren konnten und Anwälte wegen Herzbeklemmung nach Luft schnappten. Falschen Sommer schob der Föhn das ganze Jahr immer wieder, oft mit schlagartigen Wärmesteigerungen, übers Land, machte den Katholizismus und die Politik irre, war Kokain oder Hammerschlag, womöglich beides in einem.“

Wie bei solchem Föhnwetter sprechen über Verzweiflung, Depression, Suizid, Verlierer, aktive und passive Sterbehilfe? Am Besten im Gehen, die Isar entlang. All diese schweren Themen - hinzu kommen noch Einsamkeit und das Thema des Erbens und Vererbens - hat sich der 1956 in Niedersachsen geborene Wahlmünchner Hans Pleschinski aufgeladen mit und in seinem neuen umfangreichen Buch. Und löst dies doch bestrickend leicht. Federnd kommt der hoch aufgeschossene, schlanke Autor daher. Federnd auch wegen der stilsicher den Willen zum Stilbruch demonstrierenden silbernen Sneakers. „Gratulation zum Wetter. Kommen Sie, gehen wir.“

„Ich schaue meinen Figuren zu, wohin sie sich entwickeln.“

Zügig schreitet er aus und ist, wenn auch noch sacht verdrossen von seiner spärlich besuchten Lesung kurz zuvor in Stuttgart, in blendender Redelaune. „Zwei Tage vor mir hat Paul Auster da gelesen. Vor 1600 Leuten. Da war der Bedarf an Literatur wohl erst einmal gedeckt.“ Und wohl auch an seinen „Finalisten“. Denn eine Schar an Lebensmüden versammelt Pleschinski in der Ludwigshöhe, einer Villa in der Nähe des Starnberger Sees. Die drei höchst ungleichen Geschwister Berg - Clarissa, die an der London School of Economics lehrt und sich auf Arabien spezialisiert hat; die lesbische, naive Monika, beschäftigt in einem Callcenter; und der schwule Mittvierziger Ulrich, ein überschaubar erfolgreicher Strickpulloverdesigner - erben dieses Haus. Unter einer Bedingung: ihnen gehört das große Gebäude und, viel wichtiger noch, ein über mehrere Kontinente verteiltes riesiges, Unabhängigkeit verheißendes Vermögen ihres verstorbenen Onkels erst dann, wenn sie in der Ludwigshöhe ein Hospiz einrichten. Und es eine Zeit lang betreiben als Transitort für am Weiterexistieren Desinteressierte. Was sich als ebenso kompliziert erweist wie illegal, ist doch in Deutschland Sterbehilfe gesetzlich untersagt. Dank halbheimlich verteilter Infoblätter stößt nach und nach ein bunt geschecktes Dutzend zu den Bergs. Doch trotz eifriger Appelle an sozialen Notstand und zu bedenkende eigene elementare Überflüssigkeit will keiner aus der soziologischen Querschnittsschar - von einer ausgebrannten Lehrerin über ein Lärmopfer, einen Radiomoderarer, der, angewidert und erschöpft von globalen Krisen, nicht einmal mehr das Wort „Palästina„ herausbringt, bis zu einem bankrotten Verleger - übereilt aus dem Leben scheiden. Im Gegenteil: Die Ankunft einer einstigen, mittlerweile vereinsamten Theaterdiva führt zu neuerlicher Aktivität. Denn vor dem letzten Vorhang steht Genuss. Und Theater.

Ich habe vor fast 30 Jahren mit diesem Buch angefangen. Da hieß es noch „Gösselhövede“, so Pleschinski. „Aber ich kam nicht allzu weit. Vielleicht war ich auch noch zu jung. Ich habe dann erst einmal anderes geschrieben. Das Bildnis eines Unsichtbaren. Und vor drei Jahren habe ich mich dann an Ludwigshöhe gemacht.“ Auf die Bemerkung, bei der Konstellation „Moribunde in großer Villa„ würden manche gleich Thomas Manns Zauberberg assoziieren, reagiert Pleschinski nur mit übermütigem Prusten. Und winkt ab. Also damit habe es überhaupt nichts zu tun. Eine Gesundung stelle sich ja nicht recht ein. Womit er Recht hat. Endet doch alles, kunstvoll begleitet von Dante-Zitaten, in einem kollektiven Abstieg in den Keller, der improvisierten Todesstation. Und in einem flirrend idyllischen Nachspiel bei dem in heiterer Schwebe offenbleibt: Ist dies noch das Diesseits? Oder schon ein erstaunlich erdengleiches Paradies?

Ja, die Figuren seien zuerst da gewesen. Und dann bewegen sie sich in einem fixen Romanplan bis zum Ende? Überhaupt nicht. „Plot interessiert mich eigentlich kaum.“ Er sei relativ offen beim Schreiben, sagt Pleschinski. „Ich schaue meinen Figuren zu, wohin sie sich entwickeln.“ Aber natürlich gäbe es Regeln, an die er sich halte. So wie in einer Barockoper nach zwei Arien stets ein Ensembleseück kommen müsse, so verhielte es sich auch in seinem Roman. Und mehr noch, das Formale und rein Sprachliche hinter sich lassend: „Mich interessiert der moralische Gehalt des Menschen.“ Mittlerweile ist der erste von zwei Zügen ohrenbetäubend und rededurchschneidend über die niedrige Brücke gerauscht. Eine halbe Minute später folgt ein zweiter. Und man erinnert sich an eine Passage aus Ludwigshöhe: „Die Jüngere wollte keinen prüfenden Blick in Erna Jakoubeks Ohren richten, ob viel, kein oder wenig Ohropax zu erkennen war. Wahrscheinlich hatte die sich eine ganz eigene Stadtgeografie angeeignet, eingeteilt nach Straßen mit regem Zulieferverkehr, Kreuzungen mit vier oder mit acht Fahrspuren, Parks mit und ohne Bolzplätze, verkehrsberuhigte Zonen oder Durchgangspisten. Eine Krachpegelkarte musste Frau Jakoubek im Gehör haben. Ähnlich Blinden, die ein Areal nach Düften und Geräuschen aufteilten.“

Morbidezza und Lebenslust

„Hier, der Giftgarten, da bin ich oft hin. Der hat mich inspiriert.“ Erstaunlich leicht zugänglich ist die Abteilung der Münchner Stadtgärtnerei, auch wenn ein Schild am Eingang warnt, nichts mitzunehmen. Höchstens etwas für den Hausgebrauch auf der Ludwigshöhe? Pleschinski lächelt. Und studiert angeregt die Konsequenzen, die der Rote Fingerhut hat (Übelkeit, Sehstörungen, Herzrhythmusstörungen, die zum Herzstillstand führen) oder die Tollkirsche, von Pulsbeschleunigung über Rededrang - der eloquente Pleschinski: „Ich habe nichts genommen. Aber rede ich eigentlich zu viel?“ - bis Koma und Atemlähmung. Das ist selbst ihm, dem Elegant der Morbidezza und der großen Lebensleichtigkeit, etwas zu morbid. Dafür bezirzt den gebildeten Liebhaber von Barock, Rokoko und Oper ein zweigeschossiges Gebäude gegenüber mir Ausblick auf den Rosengarten. Ja, hier leben und schreiben, das wäre es.“ Sollen wir beim gut vernetzten Direktor des Münchner Literaturhauses intervenieren? „Nein, nein. Die Literaturmanager nutzen das eh nur für sich.“ Und lacht laut. Anfang des Jahres lehrte er an einer Universität in Ohio und schlug die Amerikaner mit Gedichten auf Plattdeutsch in Bann. Seine erste offizielle Einladung in die USA nach dem 11. September 2001. Ließ er doch 1995 in seinem historischen Roman „Brabant“ - „ich hatte damals das Gefühl, bald sterben zu müssen, und legte alles hinein, was ich konnte“ - nordamerikanische Städte beschießen. „Diese Passagen kann ich heute immer noch nicht vorlesen.“ Und welche Folgen hat der kleine Nebenstrang in Ludwigshöhe, in dem vermutlich erstmals in der deutschen Gegenwartsliteratur Ehrenmord zum Thema wird ? „Das bedeutet“, konstatiert Pleschinski, „dass der Roman nie ins Arabische übersetzt wird.“