Im Gespräch mit Dr. Dieter Lehner

BR-alpha Forum, 21.5.2004

Lehner: Willkommen bei alpha-Forum, unser Gast heute ist der Münchner Schriftsteller Hans Pleschinski. Ich begrüße Sie ganz herzlich im alpha-Forum.
Herr Pleschinski, Sie sind nicht nur Schriftsteller, Sie sind auch Essayist, Sie arbeiten beim Hörfunk, Sie sind bekannt geworden durch Übersetzungen aus dem Französischen. In welchem Metier fühlen Sie sich denn am wohlsten?

Pleschinski: Das ist wohl insgesamt eine Mixtur aus Fiktionalem verbunden mit meiner Lust an sachlichen Texten, Essays. Meistens sind das Ausgrabungen kulturgeschichtlicher Schätze, die in Vergessenheit geraten sind. Und die Übersetzungen sind eine Art Urlaubsreise, die ich manchmal unternehme.

Lehner: Sie sind ja schon mit diversen Preisen ausgezeichnet worden. Es begann mit Förderpreisen, aber inzwischen sind auch veritable Literaturpreise hinzugekommen. Sind Sie denn so eine Art Shootingstar in der deutschen Literaturszene?

Pleschinski: Das war ich mal, in jungen Jahren. 1984 erschien mein erstes Buch mit dem Titel "Gabi Lenz. Werden & Wollen". Das war die erfundene Geschichte einer deutschen Innerlichkeitsautorin, eine Satire. Dieses Buch war gleich sehr erfolgreich. Eigentlich hatte ich ja gedacht, dass das mein letztes Buch sein würde, denn ich hatte vorher schon etliches geschrieben: Romane, die aber keinen Verleger gefunden hatten. Ich dachte mir daher: "Jetzt räche ich mich am Schluss und schreibe eine Satire auf den Literaturbetrieb." Dies wurde dann aber genau der Anfang einer Veröffentlichungsserie bei einem damals sehr spannenden Verlag, nämlich beim Haffmanns Verlag in Zürich. Dieser Verlag hatte sich vorgenommen, gute deutsche Unterhaltungsliteratur zu machen. Das war jedenfalls ein wunderbarer Einstieg für mich damals: mit Lesungen, auch mit Preisen, Auftritten bei der Frankfurter Buchmesse, wo ich vor Angst beinahe starb und dachte, ich würde beim Vorlesen nur Asche in meinem Mund mahlen. Und dann fand ich mich auf einmal in Zürich auf der Promi-Liste wieder: "Welche Promis weilen zurzeit in unserer Stadt?" Das war alles unglaublich faszinierend für mich.

Lehner: Sie sind in Niedersachsen aufgewachsen.

Pleschinski: Ja.

Lehner: Aufgewachsen also eher in der Provinz, in einer Heidelandschaft. Sie haben auch einiges aus Ihrer Biographie literarisch verarbeitet, vor allem in dem Buch "Ostsucht". Der Titel hat natürlich damit zu tun, dass diese Gegend, in der Sie aufwuchsen, damals im Grenzgebiet zwischen der Bundesrepublik und der DDR lag.

Pleschinski: Das Städtchen lag drei Kilometer vor der Zonengrenze.

Lehner: Wie haben Sie denn Ihre Kindheit und Jugend dort erlebt?

Pleschinski: Es war eine sehr freie Zeit. Die Lüneburger Heide war damals so eine Art Nirwana: Gifhorn war der größte Landkreis der Bundesrepublik und gleichzeitig derjenige mit der geringsten Bevölkerungsdichte, aber mit viel Moor, Wald und mehr Pferden als Menschen. Ich stamme aus einer veritablen Schmiede mit Hufbeschlag und offenem Essenfeuer. Ich hatte das Glück, in ein sehr liberales Elternhaus, in eine Großfamilie hineinzugeraten. Ich kann mich daran erinnern, dass wir einschließlich der Gesellen und Lehrlinge manchmal zwölf Leute am Tisch waren. Da liefen die Kinder halt einfach so mit. Es gab Großeltern, Tanten und Onkel; das war schon eine recht angenehme und farbige Menschenmischung, sehr lustig und sehr unbefangen. Wir waren damals von vielen geistigen Impulsen der Republik sehr weit entfernt. Entweder konnte man dort also sozusagen vertorfen oder sich eigene Phantasiewelten entwickeln. Letzteres ist dann bei mir offenbar geschehen, indem ich z. B. schon sehr früh angefangen habe zusammen mit Mitschülern Dramen zu schreiben. Mit 15 Jahren habe ich ein Drama über den Siebenjährigen Krieg geschrieben. Woanders wäre das sicherlich völlig absurd gewesen, wir aber hatten ungehemmte Lust dazu, und das Ganze dann mit verteilten Rollen vorzulesen. Oder wir haben Fernsehserien verlängert und neue Drehbücher dafür geschrieben, bis alles immer absurder wurde. Das war schon ein enormer Freiraum, für den ich auch sehr dankbar bleibe, wobei es dann aber doch irgendwann einmal Zeit wurde, ihn zu verlassen, um sich draußen in der Welt auf die Probe zu stellen.

Lehner: Sie haben damals auch die letzten Reste einer Zeit mitbekommen, in der die Menschen noch nicht diese Trennung zwischen Beruf und Freizeit kannten. Da ging sozusagen der ganze Alltag in einem auf und man hat auch mal während des Tages den Beruf Beruf sein lassen und, wie Sie geschrieben haben, Schnaps ausgeschenkt. Woran ist eigentlich diese romantische Zeit zerbrochen?

Pleschinski: Die ist vergangen. Sie war auch nicht nur romantisch: Das war auch eine sehr harte Zeit. Ich habe es kaum erlebt, dass mein Vater Urlaub machen konnte. Er war Unternehmer und musste daher permanent präsent sein. Meine Mutter war krank, saß im Rollstuhl und musste gepflegt werden. Die Leute alterten damals auch sehr viel früher: Mit 60 Jahren war man alt. Die Frauen trugen früh schwarze Kleider. Aber als Kind nahm ich das meist als eine sehr behagliche Zeit wahr. Damals fuhren zu Weihnachten die Bauern noch mit Kutschen vor. Woran ist das zerbrochen? An der Rationalisierung des Lebens. Es war Bauernland und im Laufe der Zeit gab es immer mehr Schulungen für die perfekte Landwirtschaft. Die Betriebe wurden monokulturell ausgerichtet für Viehzucht oder Getreideanbau. Die Rationalisierung bedingte dann, dass alles etwas berechnender wurde. Die Großküchen, die Mägde und Knechte verschwanden: Das passte alles nicht mehr in die Zeit. Der Mittelstand schrumpfte, heute gibt es in dieser Stadt mit 5000 Einwohnern vielleicht nur noch ein Drittel der Geschäfte, die es zu der Zeit gab, als ich dort lebte. Alles ist ausgelagert worden in Großmärkte vor die Ortschaften. Es hat also gravierende strukturelle Veränderungen gegeben. Und ich habe auch den Eindruck, dass überall nur noch eine verwaltete Angestelltenbevölkerung lebt, während früher mit allem Für und Wider eigentümlichere und selbständigere Menschen leben konnten.

Lehner: Ich habe vorhin schon angedeutet, dass Sie auch über diese Kindheit und Jugend ein Buch geschrieben haben mit dem Titel "Ostsucht". Dieser Name sagt ja etwas Bestimmtes aus: Er bedeutet einerseits, dass ein erheblicher Teil Ihrer Verwandtschaft in der damaligen DDR lebte und Sie aus diesem Grund auch öfter auf Besuch in die DDR fuhren. Zumindest in der Zeit bis zum Mauerbau erhielten Sie auch immer wieder Besuch von diesen Verwandten. "Ostsucht" impliziert also auch zumindest eine gewisse Teilsympathie gegenüber diesem anderen Deutschland. Worin lag denn diese Sympathie begründet?

Pleschinski: Es war niemals eine politische Sympathie. Meine Schulferien habe ich generell in Köpenick und später in Sachsen bei Verwandten verbracht, weil eben mit dem Kriegsende viel Verwandtschaft von der Seite meines Vaters aus dem Osten flüchtend dort hängen geblieben war. Es war auch ein Faszinosum, drei Kilometer neben der Grenze zu wohnen, neben diesem schrecklichen Todesstreifen. Dies brachte, ob man das wollte oder nicht, Geschichte unendlich nahe: Sie lebte! Man hörte manchmal in der Nacht Detonationen und wusste dann nicht, ob ein Reh oder ein Mensch über das Minenfeld gelaufen war. Selbst als Kind war man also involviert in Gedankengänge, die mit der deutschen Geschichte, mit dem Zweiten Weltkrieg, mit der Teilung Europas zu tun hatten. Landschaftlich war diese Zonengrenze eine unglaublich unberührte Gegend. Als Kind und Jugendlicher konnte ich dort stundenlang spazieren gehen: Dort herrschte die größte denkbare Stille – eigentlich mitten im Zentrum eines politischen Orkans. Die Grenze setzte auch sonst viel in Bewegung. Man konnte in ein DDR-Dorf hinüberschauen, das halb zerstört wirkte, und sich von dieser Aussichtsplattform aus sagen: "Lieber im Westen eine Fünf in Mathe als drüben eine Eins in Sport!" So fand ich auch ein sehr positives Verhältnis zur Bundesrepublik, ohne dass ich das gewollt hätte, durch diese Begegnungen mit dem Osten. Aber es gibt da noch viele weitere Geschichten, die man erzählen könnte. Die DDR war für mich eine Art deutscher Orient. Wenn ich hinüber fuhr, war alles anders, also erregend. Es gab anderes Geld, da gab es dieses Absurdum, dass die dortige Bahn "Reichsbahn" hieß, das Schlangestehen vor den Geschäften. Alles hatte eine altertümlich graue Patina. Da tat sich für mich seltsam das ältere Deutschland, das rumpelnde Deutschland kund. Sehr entscheidend für mich wurden dann Besuche bei Verwandten in Sachsen, in einem Tierarzthaushalt bei Dresden. Das war ein sehr kultivierter sächsischer Haushalt: Dort fand mit neun, zehn Jahren meine erste Begegnung mit einer großen Kulturlandschaft, mit der großen Kulturstadt Dresden statt. Dresden lag damals noch völlig in Ruinen und kam mir daher vor wie ein deutsches Pompeji.

Lehner: Sie schreiben in "Ostsucht" auch über August den Starken, der Sie als Person offenbar sehr fasziniert hat. Ein anderer absolutistischer Herrscher, der Sie sehr beeindruckt hat, war Ludwig XIV. Sie sind zwischen Abitur und Zivildienst nach Frankreich gefahren und haben Versailles besucht. Auch Versailles als Schlossanlage hat auf Sie einen äußerst faszinierenden Eindruck gemacht. Warum war das so? Es ist da bei Ihnen sogar die Rede von "Utopie des Lebens".

Pleschinski: Nun, an diesen Bauten des Barocks faszinierte mich der Wille zu einer Festlichkeit, mit der das Leben geschmückt werden könnte. Diese Barockbauten in Dresden wirkten auf mich, der aus der Heide kam, wie ein Fanal, dass das Leben nicht nur ein Jammertal und eine Düsternis sein muss, sondern dass man etwas Schönes inszenieren kann: mit Kultur, mit Musik, mit Literatur, mit Liebe. Auch Versailles verheißt ja die Utopie, dass man mit diesem Willen etwas Schönes probieren könnte. Das hat aber auch mit diesem Buch "Ostsucht" zu tun, auf das ich hier noch einmal ganz kurz eingehen möchte. Ich habe es nach der Wiedervereinigung geschrieben, als seitens der deutschen Intellektuellen, auch von Günter Grass gesagt worden ist, jetzt werde Deutschland wieder größer und damit wieder gefährlich, jetzt würden der Militarismus und der Nationalismus vor der Tür stehen, die Zeiten nach dem Krieg wären schon heikel genug gewesen, aber jetzt sei Deutschland wieder ein neues Gefahrenpotential usw. Diese Aussagen störten mich massiv: immer diese Schwarzseherei und das Verheißen von Dunklem! Da wurde deutsche Geschichte als eine ewige Finsternis dargestellt. Dies konnte und wollte ich nicht akzeptieren und so habe ich mich dann aus einem Impuls heraus hingesetzt und diese etwas beschwingteren oder auch aufregenderen Erinnerungen an die deutsche Teilung, an die beiden deutschen Staaten niedergeschrieben. Denn das hat generell mit einem Lebenstenor – bei mir oder meiner schreibenden Generation – zu tun, nicht einfach zu wiederholen, nicht einfach wiederzukäuen, dass Geschichte in Deutschland permanent zu Unglücken führen muss und eine Abfolge von Unseligkeiten darstellt. Ich suche also immer Utopiepotentiale, die dagegen stehen. Und ich kann sie in der Geschichte auch finden. Gemeinhin identifizieren wir unsere Geschichte, unsere deutsche Identität grob mit den letzten hundert Jahren seit Bismarck und dann vor allem massiv mit dem Dritten Reich. Aber Deutschland reicht viel weiter zurück, hat ganz andere und wunderbare Ressourcen. Es kann wirklich ein ganzes Schriftstellerleben ausfüllen, daran zu erinnern, dass Deutschland einmal in der Mitte Europas ein bunter Staat gewesen ist: multikulturell und alles andere als eine militärisch überlegene Nation, sondern fast schon gemütlich dahindümpelnd zwischen weitaus gefährlicheren Großmächten. Wir haben auch viele schillernde und lichte und hervorragende Figuren in unserer Vergangenheit, an denen man sich ausrichten könnte.

Lehner: Treibt Sie eine Art aufklärerischer Impetus? Sie wollten ursprünglich auch einmal Lehrer werden. Dies haben Ihnen dann ein paar skurrile ostelbische Junker während Ihrer Arbeit als Zivildienstleistender ausgetrieben und Sie eher zum Schriftstellerberuf ermutigt.

Pleschinski: Es haben sich beim Schreiben bestimmte Themenzwänge ergeben. Literatur kann auch daraus bestehen, daran zu erinnern, was gerade vergessen ist. Und in Deutschland scheint es mir immer besonders notwendig zu sein – dies ließe sich durchaus noch spezifizieren –, in unserem ewigen Krisengefühl, das durch die Wirklichkeit kaum belegbar ist, an etwas Frohgemuteres zu erinnern. Zum Beispiel an schönen deutschen Größenwahn. Ich habe ein kleines Büchlein geschrieben, das in Norddeutschland sehr verbreitet ist und den Titel trägt "Der Holzvulkan". Es erzählt die Geschichte des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Er war ein sehr bedeutender Barockfürst, der damals weltberühmt gewesen ist. Er war ein Briefpartner von Liselotte von der Pfalz. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wollte dieser Herzog jedenfalls sein Land in ein Arkadien verwandeln. Er war so ein bisschen wie Ludwig II. von Bayern. Anton Ulrich wollte mit aller Macht das Schöne. Und dafür baute er einen Palast, für den er überhaupt kein Geld hatte: ein riesiger Palast in der Nähe von Braunschweig, von dem heute nicht einmal mehr die Grundmauern stehen. Damals war Salzdahlum jedoch ein Weltwunder. Es beherbergte im Treppenhaus eine Fontäne oder eine spanische Karavelle, die als Schlafschiff für den Mittagsschlaf diente. Es gab auch Kaskaden, aber es war kein Geld für Röhren vorhanden, so dass es trockene Wasserspiele blieben. Es wurden auch Opern und Ballette aufgeführt, bei denen sich die Highsociety von Europa zusammenfand. Das war schöner deutscher Größenwahn! An so etwas zu erinnern, kann viel Freude bereiten und ist sicherlich auch irgendwie pädagogisch. Ich denke mir, die Melancholie steht permanent vor der Tür und deswegen sollte man die Tür nicht zu schnell aufreißen, um sie hereinstürzen zu lassen.

Lehner: Sie sind dann nach dem Zivildienst aus der Lüneburger Heide nach München "ausgewandert". München ist ja nicht der nächste Weg von Niedersachsen aus gesehen.

Pleschinski: Ganz und gar nicht.

Lehner: München war und ist ja zumindest nicht auf den ersten Blick die Metropole, in der man als Künstler unbedingt leben muss. Berlin war selbst in seiner Phase als geteilte Stadt sehr interessant und auch eine Stadt wie Paris wäre doch eine Alternative gewesen. Warum hat es Sie denn ausgerechnet und auch noch sehr bewusst nach München verschlagen?

Pleschinski: München hatte ich bei einer abenteuerlichen Reise zusammen mit einem Franzosen für mich entdeckt. Er sagte als junger Franzose damals zu mir quasi wie Charles de Gaulle: "Voilà, une capitale!" Er war recht verblüfft über die Großartigkeit dieser Stadt, über die Kolonnaden, über die Fassaden, die Oper. Und mich hat das auch fasziniert. Ich dachte mir: "Wenn ich ganz trübsinnig sein sollte, dann gäbe es hier zumindest schöne Straßen, die mir vielleicht wieder aufhelfen können." Innerhalb Deutschlands, und doch fast schon nicht mehr in Deutschland, schien mir München einer der exotischsten Orte zu sein. Es ist ja auch wichtig, als Jugendlicher fortzugehen. Diese 800 Kilometer von der Gegend bei Gorleben und Uelzen waren schon ein schöner Sprung. Ich hatte hier immer das Gefühl, man lebt hier an der Schwelle nach Italien. Damals konnte man z. B. als Student auch noch für relativ wenig Geld zusammen mit einigen Kommilitonen nach Verona zum Frühstücken fahren. Das war atemberaubend für mich.

Lehner: Sie haben auch als Komparse am Gärtnerplatztheater gearbeitet. Dort hatten Sie etliche interessante Begegnungen. Ich kann mich daran erinnern, dass Sie mal von einer Begegnung mit Johannes Heesters erzählten. Wie war das seinerzeit?

Pleschinski: Sonst werden nur Bühnenstars nach Bühnenerinnerungen befragt. Nun, ich habe mir dort ein paar Jahre lang mein Studium finanziert. Man konnte morgens zur Probe gehen, in der Loge sitzen, wenn man nicht dran war und schöne Musik hören. Abends wurde man dann kostümiert und hatte seinen Auftritt. Ich habe damals bis zu 32 Vorstellungen im Monat absolviert, denn der "Vogelhändler" wurde am Sonntag manchmal zweimal gespielt. Angefangen hat das Ganze für mich dort mit einer modernen Oper, in der ich eine kahlköpfige Jungfrau spielen musste, die zusammen mit anderen kahlköpfigen Jungfrauen ein Bett trug. Das war eine Oper von Volker David Kirchner. In der zweiten Inszenierung musste ich Alice und Ellen Kessler Geld in den Busen stecken: Das war in Brecht/Weills "Sieben Todsünden des Kleinbürgers". Und dann gab es eben auch diese Inszenierung von "Gigi" mit Johannes Heesters und Luise Ulrich, in der man im "Maxim" im Frack Walzer drehte. Das war alles ungeheuer anregend für mich – jedenfalls bis ungefähr zur 187. Vorstellung, denn von da an hat es mir dann doch eher Magengeschwüre verursacht. Die Komparsen bilden stets so etwas wie einen eigenen Olymp: Dort hat es einige sehr skurrile Gestalten gegeben. Es gab ein altes Ehepaar, das sich Zeit seines Lebens nur von Statisterie ernährt hatte. Es fuhr abends mit dem Taxi von einem Theater zum anderen, denn sie traten an einem Abend in einem Stück im Nationaltheater zwei Mal auf, mussten zwischendurch aber auch noch einen kurzen Auftritt im Residenztheater oder im Gärtnerplatztheater absolvieren. Sie waren also den ganzen Abend über am Verkleiden.

Lehner: Das umfangreichste Buch, das Sie geschrieben haben, ist der Roman "Brabant": ein skurriles, satirisches, kleines oder vielleicht auch großes Welttheater.

Pleschinski: Ich finde es ganz normal und gar nicht skurril.

Lehner: Sie beschreiben in diesem Buch sehr viele Charaktere, die sich auf einem Holzschiff befinden...

Pleschinski: Ja, auf einem ehemaligen Segelschiff.

Lehner: ... und die einem paneuropäischen Kulturverein namens "Artemis" angehören. Diese Menschen geraten in Rage darüber, dass in Rom auf altem, ehrwürdigem Boden ein zweites Disneyland aufgemacht werden soll. Sie geraten darüber so sehr in Rage, dass sie sich spontan aufmachen und etwas unternehmen...

Pleschinski: Sie verraten den Schluss bitte nicht.

Lehner: Diese Leute haben jedenfalls etwas vor, sie wollen etwas gegen den amerikanischen Kulturimperialismus unternehmen, wenn ich das mal so bezeichnen darf. Was treibt denn diese ursprünglich absolut kreuzbraven Bürger dazu, so rabiat zu werden?

Pleschinski: Dieses Buch hat mittlerweile ein merkwürdiges und gar nicht komisches Schicksal erlitten. Der Roman heißt "Brabant", und er sollte ein demokratischer europäischer Kulturkrimi werden: ohne Hauptfigur, sondern mit vielen Hauptfiguren, wie das im Leben eben so ist. Es sind viele Stimmen, die zusammen einen Chor ergeben. Das ist also ein europäischer Kulturverein, der sich immer in Flandern auf einer ehemaligen Kongo-Fregatte trifft. Dort erfahren diese Leute, dass bei der Hadrians-Villa in Rom ein neues Disneyland gebaut werden soll. Diese Europäer aus 27 Ländern machen sich dann sozusagen in einem Selbstmordakt auf, den Atlantik zu überqueren und in Amerika ein letztes Signal der abendländischen Kultur von sich zu geben. Am Schluss brennt das Pentagon. Dieses Buch habe ich 1995 veröffentlicht. Es geht darin gegen Tendenzen der Globalisierung, der Vereinheitlichung von Lebensformen, der Nivellierung von Landes- und Regionalkulturen durch eine Einheitskultur, die nordamerikanisch, nordeuropäisch geprägt zu sein scheint und die den Menschen in einer unausdenkbaren Weise immer weiter uniformiert. Dagegen wollte ich mit diesem Buch rebellieren. Es gab damals viele Lesungen, hauptsächlich in Norddeutschland, weil auf diesem Buch vorne ein Schiff abgebildet ist: Das ist wirkt dann einfach ein wenig norddeutsch. Es waren heitere Lesungen: "Europäer greifen das Pentagon an!" Dann geschah der 11. September. Ich sah mit größtem Grauen das einstürzende World Trade Center. Gleichzeitig merkte ich: Ein Buch, das schon lange fertig ist, schreibt sich völlig um. Das erlebt man vielleicht nur einmal in einem Schriftstellerleben. Aus einem Buch, das einst heiter gewesen ist, ist mit einem Schlag etwas Todernstes geworden. Es brannte jetzt nicht das Pentagon, das freilich auch angegriffen worden ist, sondern das World Trade Center. In der Folge erhielt ich Drohanrufe. Mir wurde vorgeworfen, ich hätte schrecklichste Dinge vorgedacht. Ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich dazu verhalten sollte. Ich habe das Buch dann vor mir selbst versteckt und war letztlich dankbar dafür, dass ich eine Szene eingebaut hatte – es gibt an Bord dieses Schiffes übrigens auch sehr pro-amerikanische Gestalten –, in der lange darüber debattiert wird, dass keine kulturelle Tat gerechtfertigt werden kann, wenn auch nur ein Tropfen Blut fließt. Dennoch geht es durchaus weiterhin darum, wie Europa seine Eigenheiten bewahren kann: nicht gegen Amerika oder eine andere Weltmacht, sondern wie es für sich selbst kontinentalen Stolz und Eintracht wahrt. Denn ich glaube, nur aus einer Souveränität heraus kann man auch woanders helfen und agieren. Das, was im Buch geschieht, spiegelt auch die Wirklichkeit, denn die Präsidentin dieses Kulturvereins ist eine Französin: Ein Deutscher könnte das kaum sein. Denn wenn ein Deutscher sagen würde, "Wir greifen Amerika an", dann wäre das ein Unding, das wäre unerträglich. Der Deutsche, ein Dr. Müller, Byzantinist, sagt nur: "Wir greifen an, aber passiv!" Deutschland läuft wachsam mit, ohne selbst bösartige Akzente zu setzen.

Lehner: Sie haben ein sehr persönliches, autobiographisches Buch geschrieben mit dem Titel "Bildnis eines Unsichtbaren". Es beginnt in den achtziger Jahren: Die Achtziger beinhalteten eine gewisse Weltuntergangsstimmung. Ich darf hier nur an die damaligen Diskussionen um die Pershing- und SS-20-Raketen erinnern; es gab damals schon eine große Arbeitslosigkeit, die viele Menschen beunruhigte; die Auseinandersetzungen um Wackersdorf; es gab den Atomunfall in Tschernobyl; und es gab die Immunschwächekrankheit, die die Welt heimsuchte, mit dem möglicherweise etwas verharmlosenden Namen "Aids". In dieser Weltuntergangsstimmung in den achtziger Jahren, wie ich das mal nennen will, ist Ihr Buch angesiedelt: Dort beschreiben Sie Ihre jahrzehntelange Beziehung zu einem Mann, der zum Schluss seines Lebens hin viele Jahre gegen diese Krankheit Aids gekämpft hat und schließlich doch daran sterben musste. Was hat Sie dazu bewogen, ein so persönliches Buch zu schreiben?

Pleschinski: Es ging nicht anders. Ich hatte andere Pläne für Bücher, aber dann starb mein Lebensgefährte, mein Lebensberater, der auch jede Zeile von mir gelesen und korrigiert oder auch nicht korrigiert hatte. Er starb nach einem bestialischen Kampf gegen diese Krankheit – so wie viele andere um mich herum auch. So war es Zeit, Zeugnis abzulegen über eine Katastrophe innerhalb unserer Gesellschaft, die darüber hinaus mittlerweile weite Teile der Welt verheert und geradezu entvölkert. Das Buch sollte auch einem der letzten Bohemiens, den ich kannte, ein Denkmal setzen, einer "non profit Existenz", nämlich Volker Kinnius, der sein Leben vollkommen und fraglos der Kunst und der Förderung von Künstlern gewidmet hatte.

Lehner: Er war hauptsächlich Galerist gewesen.

Pleschinski: Ja, er war auch Galerist; er war Freund und Begleiter von Michael Ende und dessen Vater Edgar Ende; er hat die Malerei von Edgar Ende wieder publik gemacht. Ich dachte mit Grauen daran, dass ich mit diesem Buch ein Buch über Tod und Finsternis schreiben würde, das ich aber nicht aufhalten konnte. Es ist zu meinem eigenen Erstaunen – denn das habe ich erst über die Resonanz auf dieses Buch gemerkt – dann aber doch ein Buch über das Leben geworden. Über den Tod lässt sich ja kaum etwas sagen, über das Leben jedoch noch immer alles. Es schildert die unglaublichen Energien, die Bedrohungen freisetzen. Ich bekam Trostschriften zugeschickt oder Hilfegesuche von Menschen unterschiedlichster Art, die dieses Buch gelesen haben. Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass Literatur auch immer noch eine solche intime Breitenwirkung haben kann, der man sich als Autor dann auch stellen muss.

Lehner: Die Boheme hat ja gerade in München Tradition. Ich darf hier nur einmal an die Schwabinger Boheme in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erinnern.

Pleschinski: Es scheint immer schwieriger zu werden, ein individualistisches Leben zu führen. Individualismus klebt als Etikett auf unserer Zeit: Aber die Lebensformen kommen mir immer standardisierter vor: Ich habe das Gefühl, wir führen immer ähnlichere Leben mit immer ähnlicheren Erfahrungen und bei immer ähnlicherer Gängelung. Die Menschen schauen viel missmutiger aus als sie es ihnen gebührt. Dieses Zu-Tode-verwaltet-und-überwacht-Werden scheint mir für alle Freiheitlichkeit die Todesfalle zu sein. Dagegen zu rebellieren ist ganz schwierig: Wir leben in einer Massengesellschaft, die demokratisch ist, aber die Erfahrungs- und Erlebniswelten scheinen sämtliche ausgeleuchtet zu sein – so wie der ganze Globus ja auch kaum mehr Rückzugs- und Fluchtmöglichkeiten bietet. Es ist fast alles bekannt, rubriziert: Wie soll dazwischen noch Ungewöhnliches freizügig gedeihen?

Lehner: Verstehen Sie denn Ihre Bücher auch als Plädoyer für den unbedingten Drang nach individueller Freiheit?

Pleschinski: So krass kann man heutzutage gar nichts mehr formulieren. Es sind keine revolutionären Zeiten, und ich kann mir revolutionäre Zeiten auch nicht mehr vorstellen. Wer will wie wogegen aufbegehren? Jeder kann heute mitbestimmen und wählen. Und damit ist ein historisches Höchstmaß an Mitgestaltungsmöglichkeit gegeben. Gut, man kann sich eigentümlich verhalten und auf seinen Vorlieben beharren. Bildung ist sicherlich ein Potential und ein Kraftstoff, mit dem sich auch heutzutage noch ein Charakter herausbilden und vor einer Vermassung retten lässt. Das kann und sollte eben ein wichtiges Anliegen von Beschriebenem sein: Es sollte vergangene Reiche wieder lebendig machen. Für mich sind das Schreiben von Essays, das Übersetzen meinetwegen der Briefe von Madame de Pompadour und Voltaire auch Reisen. Das sind keine Reisen wie nach Gomera, sondern Reisen auf auf Inseln in der Zeit. Vielleicht auch für den Leser sind sie Regenerationsmöglichkeiten. Alles, was war, lebt weiter. Man muss es nur anschauen. Dann merkt man, dass eine Madame Pompadour vielleicht eine wesentlich modernere Frau gewesen ist als manche Menschen im Bundestag.

Lehner: Ich darf unserer Gespräch mit einem Zitat von Volker Kinnius schließen: "Aufmerksamkeit ist das Gebet der Seele." Das war das Alpha-Forum, heute mit dem Schriftsteller Hans Pleschinski.